Ruhe und Bewegung
Das Meer
Artikel Osgar Piegsa "Wie wir lernten den Urschleim zu lieben" | Einblenden | |
Wie wir lernten, den Urschleim zu lieben. Das Meer stand lange für Fäulnis und Gewalt. Dass man es dort ganz gut aushalten und sogar darin baden kann, entdeckten die Menschen erst vor etwa 250 Jahren. Der Sand war schon immer da, die Wellen auch und die Sonne sowieso. Doch die Menschen kamen spät. Heute scheint es normal, dass im Sommer die Massen an die Strände strömen, dass am Wochenende die Straßen nach Scharbeutz verstopft sind und die Hotelzimmer auf Sylt ausgebucht. Doch die Sehnsucht nach dem Strand ist nichts, was in unserem Erbgut steckt. Unsere Vorfahren mussten sie erst erlernen. Noch vor 250 Jahren wäre ein Urlaub am Meer den meisten völlig abwegig erschienen. Der Strand, schreibt der Historiker Valentin Groebner in einem Aufsatz in der Zeitschrift Merkur, war in der menschlichen Wahrnehmung lange nur der »Zwischenraum zwischen Land und Meer, weder Komfortzone noch Sehnsuchtsort, sondern eine Art Rampe: Niemand ging dort zur Entspannung hin.« Als zum Beispiel der französische Philosoph Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert nach Italien reiste, habe er in seinem Tagebuch alles Mögliche beschrieben, »aber keinen einzigen Strand«. Hatte er übersehen, dass Italien am Mittelmeer liegt? Nein, schreibt Groebner, der Reisende tat gut daran, die Strände zu meiden. Im Juli 1581, während Montaigne in Pisa weilte, überfielen türkische Seeräuber die Küstendörfer vor der Stadt und entführten mehrere Bewohner. »Zu Beginn der Neuzeit waren Strände unkontrollierbare Ränder der christlichen Welt«, so Groebner, und »Schauplätze für Razzien von Piraten in osmanischen Diensten.« Nicht nur die Piraten stellten ein Problem dar. Die Menschen fanden damals einfach alles furchtbar am Strand: Die endlose Weite des Meeres. Seine unergründliche Tiefe. Die Ungeheuer, die man draußen auf See vermutete, und die Gewalt der Sturmfluten. Es kam auch niemand auf die Idee, dass ein Strandspaziergang wohltuend und Seeluft gesund sein könnte. Ganz im Gegenteil: Auf den Schiffen der Entdecker verdarben die Lebensmittel, Seereisende brachten Seuchen mit, und die Wellen spülten modrigen Seetang und Tierkadaver ans Land. Was sollte daran belebend sein? »Das Meer selbst ist fäulniserregend«, fasst der Historiker Alain Corbin diese Einstellung zusammen. »Daß seine Ausdünstungen ungesunde Folgen haben, gehört zu den am tiefsten verwurzelten Überzeugungen der neohippokratischen Medizin des 17. und 18. Jahrhunderts.« Doch langsam änderte sich etwas. Am 3. September 1786, rund 200 Jahre nach Michel de Montaigne, brach erneut ein Schriftsteller nach Italien auf: Johann Wolfgang von Goethe. Anders als sein Vorgänger wanderte Goethe auch an den Küsten entlang und schwärmte im Bericht seiner Italienischen Reise von ihrer landschaftlichen Schönheit. Er staunte über die bunten Feuersteine am Strand, empfand die Steilküste als »das ungeheuerste Natur- und Kunstwerk« und notierte beim Blick aufs Meer: »So ein herrlicher Frühlingsblick wie der heutige bei aufgehender Sonne ward uns freilich nie durchs ganze Leben.« Als die Menschen zu baden begannen, war alles daran absurd. Aber sie liebten es Auch den Maler Caspar David Friedrich zog es an die Küste: Ab 1798 bereiste er mehrmals Rügen. Er malte nicht nur Nebelmeer und Eismeer (die beiden Meisterwerke, die heute in der Hamburger Kunsthalle hängen), sondern zeichnete auch die Dünen und Felsen an der Ostsee. Goethes Berichte und Friedrichs Bilder begleiteten und beschleunigten einen kollektiven Sinneswandel: In der Romantik wurde das Meer sehenswert. Einige Besucher brachten sogar Operngläser mit, um das Schauspiel der Naturgewalten besser beobachten zu können. Noch waren sie beim Strandbesuch -bekleidet und blieben nach Möglichkeit trocken. Doch auch das sollte sich ändern. Es war ein Physikprofessor aus Göttingen, der die Deutschen mit der Idee versöhnte, zum Schwimmen nicht mehr nur in Flüsse und Seen zu steigen - wie Goethe in die Ilm in Weimar -, sondern auch ins Meer. Alle zehn Jahre werde irgendwo ein neuer Wasserkurort mit Heilquelle eröffnet, moserte Georg Christoph Lichtenberg im Jahr 1793 in einem Aufsatz, nur ein Seebad gebe es in Deutschland noch nicht. Was aber sind die »dumpfigen Alleen der inländischen Kurplätze« gegen einen Strandspaziergang am Sommermorgen? Und was ist der läppische Rheinfall gegen das Donnern der Nordsee? Ein »bloßer Waschbeckentumult«! Einige Jahre zuvor hatte Lichtenberg das Seebad Margate in Großbritannien besucht und dort das in Deutschland noch Unvorstellbare getan: Er hatte ein Bad genommen. Im Meer. In seinem Aufsatz schilderte Lichtenberg minutiös, was in Margate geschah: Am Strand bestieg der Badegast einen Wagen, der »einem sehr geräumigen Schäferkarren nicht unähnlich sieht«. Drinnen legte er seine Kleidung ab, während ein Pferd und ein Fuhrmann den Karren ins flache Meer zogen. Dort, wo es tief genug war, ließ der Fuhrmann über der Hintertür des Wagens eine in alle Richtungen verschlossene, blickdichte Markise herab. »Wenn also der ausgekleidete Badegast alsdann die hintere Tür öffnet, so findet er ein sehr schönes dichtes leinenes Zelt, dessen Boden die See ist.« Über eine kleine Treppe stieg Lichtenberg nun ins Meer, hielt sich zur Sicherheit an einem Seil fest und tauchte unter. Einmal, zweimal, so wie es ihm zuvor ein Arzt verschrieben hatte. Aus heutiger Sicht scheint alles an diesem Vorgang absurd: Dass es für jeden Badenden ein eigenes Pferdefuhrwerk brauchte, einen Arzt und teils noch einen Bademeister zur Begleitung. Dass Lichtenberg zwar in die Nordsee stieg, aber den Horizont nicht sehen konnte, sondern eine Zeltplane vor der Nase hatte, die aus einem kleinen Abschnitt des Meeres ein privates Badezimmer machte. Dass er dort tauchte, wo ein Pferd noch stehen konnte, die Wassertiefe also kaum größer war als in einer Badewanne. Doch Lichtenberg empfand das alles als Vergnügen »in sehr hohem Grade« und die Tage in Margate als die gesündesten seines Lebens. Er empfahl, dass man auch in Deutschland ein Seebad errichten solle. Tatsächlich wurde noch im selben Jahr 1793 der erste deutsche Badeort in Heiligendamm an der Ostsee eröffnet. 1797 folgte ein Nordseebad auf der Insel Norderney. In Travemünde entstand 1802 das erste bürgerliche Seebad, gegründet nicht von einem Adelshaus, sondern von einer Aktiengesellschaft. »Embryonärer Schleim«, »tierischer Gallert« - all das war das Meer Wie in England fuhr man umständlich mit Karren ins Meer, die man »Bademaschinen« nannte, wohl weil das zu Zeiten der industriellen Revolution so unverschämt modern klang. Immerhin: Bis Ende des 19. Jahrhunderts, so legen es historische Fotos nahe, verschwanden die Zeltplanen von den Wagen. Man konnte nun etwas freier baden. Schwere Kostüme aus Wolle, Seide und Leinen sorgten dafür, dass die Körper dabei sittsam bedeckt blieben. Die schönste Hymne auf die neue Mode des Seebadens hat 1861 der Franzose Jules Michelet geschrieben - auch deshalb, weil in ihr die alte Abscheu vor dem Strand und den Wellen noch nachhallt. In seinem Buch Das Meer spricht er Sommerurlaubern Mut zu, die sich zum ersten Mal an einem »trostlosen Strand« wiederfinden und auf das »wilde und karge« Wasser blicken: »Bestärken Sie sich. Der Eindruck ändert sich vollständig, wenn Sie das Meer erst besser kennen und seine große Belebtheit verspüren.« Denn, so fährt Jules Michelet fort: »Die universelle Grundlage des Lebens, der embryonäre Schleim, der lebendige tierische Gallert, in dem der Mensch geboren wurde und wieder ersteht, dem er die markige Konsistenz seines Wesens entnahm und unaufhörlich weiter entnimmt: Das Meer besitzt diesen Schatz so nachhaltig, daß es wie das Leben selbst ist.« Dasselbe Meer, das die Menschen hundert Jahre zuvor noch an Tod und Verwesung denken ließ, war nun in sein Gegenteil verkehrt. Es wurde zum Ausdruck des Lebendigen und der Strand zum Ort der Lebensfreude. Damit war der Weg frei für alles, was danach kam: Schlickbäder, Wattwanderungen und Algentees; Bettenburgen, Eimersaufen und Punks auf Sylt. Historiker und Sozialwissenschaftler sind fasziniert von dieser kulturellen Umdeutung des Meeres. Vor allem in Frankreich gab es in den Neunzigerjahren eine wahre Blüte der Strandforschung: Alain Corbin lieferte mit Meereslust das Standardwerk zur Geschichte des Seebadens, Jean-Didier Urbain folgte mit Sur la mer, einer Studie zu »Sitten und Gebräuchen am Meer im 19. und 20. Jahrhundert«, und Marc Augé unternahm für die Zeitung Le Monde diplomatique ethnologische Feldforschungen an der Atlantikküste, bei denen er die »charakteristische Inaktivität« der Urlauber studierte und festhielt: »die ausgestreckte Körperhaltung ist unerläßlich«. Die ambitionierteste intellektuelle Tiefenbohrung zum Strandleben stammt von Jean-Claude Kaufmann: Er verfasste eine dreihundertseitige Untersuchung allein über das Sonnenbaden oben ohne. Über sein Erkenntnisinteresse schrieb der Soziologe: »Das Entfernen des Bikini-Oberteils ist keine einfache, natürliche und problemlose Geste, sondern reiht sich in einen historischen Prozeß.« Merke: Nichts ist natürlich am Strand, alles eine Folge von historischen Prozessen. Auf Norderney und in Travemünde gibt es heute Museen, die sich der Geschichte des Seebadens widmen. Auch in Bad Doberan bei Heiligendamm unterhält das Stadtmuseum eine entsprechende Abteilung. Doch als Urlaubslektüre hat sich die Strandsoziologie nicht durchgesetzt. Beim Sonnenbaden werden heute andere Bücher gelesen, wenn überhaupt. »Die Welt des Strandes ist nicht die der großen Gedanken«, räumt Jean-Claude Kaufmann ein. Viele sind im Alltag oft verkopft und selbstreflexiv, da bietet der Sommerurlaub eine Chance, das Nachdenken mal bleiben zu lassen. Und stattdessen einfach dazuliegen, mit oder ohne Bikini-Oberteil, charakteristisch inaktiv in ausgestreckter Körperhaltung, im Sand, bei den Wellen, in der Sonne. So, als wäre es nie anders gewesen. Oskar Piegsa ( Das Meer , Urschleim Zeit online Die Zeit Hamburg vom 28.07.2022, Nr. 31, S. 70 / Hamburg Geschichte) |
Gemälde auf Leinen in der Größe ab 70 x 100 cm bis 120 x 140 cm, Acryl-/ Ölfarbe